Einmal Löwe sein

Ich hätte gern ein dickeres Fell – oder überhaupt ein Fell. Einen gesunden Abstand, einen flauschigen Puffer zwischen mir und der Außenwelt. Damit wäre ich mutiger, selbstbestimmter und wahrscheinlich nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. 

 

In meiner Wunschvorstellung würde ich dann selbst in schwierigen Situationen cool bleiben. Wie ein Löwe beim Angriff auf seine Beute - manchmal stellt sich der Angriff dann doch als unerreichbares Ziel dar, doch der Löwe setzt sich unter einen Baum und schnauft erst mal durch. Vielleicht schläft er erst mal drüber!

 

Mit einem dickeren Fell wäre ich auch weniger zickig (was mein Freund oft von mir behauptet) - anstatt ständig vom Schlimmsten auszugehen und die Messer zu wetzen. So manche "komische" Fragen würden mich kalt oder wenigstens kälter lassen. 

 

Sorgenfreier stelle ich mir das Leben mit einem dickeren Fell auch vor.

Ich könnte besser zwischen meinen und fremden Problemen unterscheiden. 

 

In der Realität schwappen oft fremde Gedanken in meinen Kopf hinein. So grübele ich über die beruflichen und oft lebensgefährlichen Angelegenheiten meines Freundes - dabei hat er alles im Griff und ist selbst nicht einmal beunruhigt. Ich hingegen will einen Schlachtplan mit drei verschiedenen Szenarien schmieden. Manchmal ist das konstruktiv, oft raubt es aber mir den Schlaf und meinen Seelenfrieden.

 

Es gibt glaube ich keine einfache Lösung beim Thema Abgrenzung, weswegen sie bei sehr sensiblen Menschen oft eine große Baustelle ist. Warum ist das eigentlich so schwer? War Abgrenzung in der Evolution so unwichtig, dass sie uns abhanden gekommen ist? 

 

Wir streben heute immer noch nach Harmonie und sagen lieber Ja als Nein. Daran ist nichts auszusetzen. 

Natürlich liegt uns ein gutes Verhältnis zu Familie und Freunden am Herzen. In der Realität bedeutet das aber meistens: friedliche Koexistenz mit nicht zu viel Tiefe. Denn wie viel Ehrlichkeit und Selbstbestimmung vertragen schon solche zwischenmenschlichen Beziehungen? Sagt man der Freundin, dass sie zu viel seelischen Ballast ablädt und man das nicht aushalten kann? Sagt man die Einladung ab, weil man nicht in Stimmung für eine Feier ist? Schwierig. Nur wenige Beziehungen halten dieses Maß an Ehrlichkeit und Dissens aus. Wir sind es schlichtweg nicht gewohnt und es würde die Dinge ziemlich auf den Kopf stellen, wenn wir radikal ehrlich wären.

 

Dazu kommt die gesellschaftliche Konvention: "Nein-sagen" gehört sich nicht und Egoismus ist sowieso verpönt. Dabei wäre eine gesunde Portion Egoismus gesund und förderlich für uns alle. Es gäbe weniger Burnout-Fälle, weniger Menschen, die zu Alkohol & Drogen als Kompensation greifen würden oder sich nicht zu letzt schlichtweg in eine Scheinwelt der sozialen Medien flüchten. Meine elterliche und familiäre italienische Erziehung bedeutete oft Gefügig-machen. Man soll gehorchen, lieb und nett sein. 

 

Dann wäre da noch die Empathie, die uns die Abgrenzung erschwert. Dabei ist sie natürlich eine gute und nützliche Eigenschaft. Sie sorgt dafür, dass wir uns in andere einfühlen und besser miteinander umgehen. Es wäre ein Fehler, sie zu verteufeln. Schließlich fehlt es in der Gesellschaft wohl eher an Einfühlungsvermögen, als dass es zu viel davon gäbe. 

 

Ich möchte mitfühlend sein. Der Altruist in mir kann aber nicht genau unterscheiden, wann es sinnvoll ist. Ich mache mir selbst dann Sorgen über Dinge oder Situationen, von denen ich bereits weiß, daß ich nichts an ihnen ändern kann. Ich bin in diesen Phasen erschöpft und niedergeschlagen. Es ist ein schmaler Grat zwischen Mitfühlen und Mitleiden. Das Letztere gehört eher zu meinem Leben.

 

Ein weiterer Grund für die Schwierigkeiten sich abzugrenzen ist, dass wir nicht genügend bei uns sind.

Wir machen uns Gedanken über die Meinung der Nachbarn, die Laune des Chefs, den Unterton der Kollegin und was die Welt wohl so von uns halten würde, wären wir eine Person des öffentlichen Lebens. So verbringen wir den lieben langen Tag und drehen uns gedanklich um andere – ohne einmal kurz in uns selbst zu horchen. 

 

Für so manche Abgrenzungsfälle hätte unser Bauchgefühl sicher eine Lösung parat, aber wir hören nicht hin. Gefühle zeigen eigentlich an, was nicht stimmt und dass wir handeln sollten. Wir wollen die Sache jedoch mit dem Kopf lösen. Wir recherchieren, analysieren, diskutieren mit Freunden oder dem Partner und sind dabei abgekapselt von unseren Gefühlen und Instinkten. Feinfühlige Menschen sind oft unfähig, Wut zu empfinden und es fällt ihnen schwer, bei der Arbeit Grenzen zu setzen. Was könnte dann nämlich passieren? Der Urlaub wird vielleicht nicht genehmigt, wir werden nicht befördert oder schlimmstenfalls, es folgt die fristlose Kündigung – und das können wir uns nicht leisten!

 

Wer nicht weiß, wo seine Grenzen liegen, kann sich nicht verteidigen. So weit, so ungut, denn irgendwann sind die Ressourcen erschöpft. Man fühlt sich für alles und jeden verantwortlich, ist chronisch überlastet und deprimiert oder rastet irgendwann aus. 

 

Wenn man sich mit dem Thema Abgrenzung beschäftigt, stößt man früher oder später auf die Zaun-Metapher:

Wer Grenzen setzt, errichtet einen Zaun um sich. Im Gegensatz zu einer Mauer lässt dieser sich verrücken und darüber hinweg ist ein Plausch mit dem Nachbarn möglich. Man kann das Gartentor öffnen und jemanden einladen. „An Grenzen begegnet man sich“, heißt es oft.

 

Manche Menschen fordern aber selbst erfahrene "Grenz-Kenner" und "Grenz-Verteidiger" heraus. Sie erinnern mich an Planierraupen. Diese Menschen kennen und respektieren keine Grenzen. Wenn man sich ihnen widersetzt, schießen sie um sich und werden bösartig. Meiner Erfahrung nach hilft in diesem Fall nur Abstand – und der Gedanke oder die Hoffnung daran, dass sie mit dieser Einstellung wahrscheinlich auch kein zufriedenes Leben führen.

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